sumerische Literatur: Gestalten und Gattungen

sumerische Literatur: Gestalten und Gattungen
sumerische Literatur: Gestalten und Gattungen
 
Nachdem die Keilschrift um 3000 v. Chr. von den Sumerern geschaffen worden war, blieb sie in ihrer Anwendung zunächst recht beschränkt, da vor allem wirtschaftliche Vorgänge dokumentiert wurden. Rund 200 Jahre später wurde sie auch dazu verwendet, kurze Inschriften zu formulieren, mit denen Gegenstände den Göttern geweiht wurden. Es bedurfte noch einiger Jahrhunderte, bis die Schreiber dazu übergingen, auch Texte niederzulegen, die nach unserer heutigen Definition als Literatur bezeichnet werden können. Allerdings dürfen wir wohl davon ausgehen, dass diejenigen Texte, die in der späteren Überlieferung schon voll ausgeprägt erscheinen, eine längere mündliche Tradition hinter sich hatten. Auch dann dürften schriftliche und mündliche Tradition noch nebeneinander weiterexistiert haben.
 
Da im Mittelpunkt des kulturellen Lebens der frühen Völker die Verehrung der Götter stand, beschäftigt sich die Literatur zunächst und hauptsächlich mit religiösen Inhalten; Texte wie etwa Märchen, Volkslieder, Schwänke und persönliche Erzählungen finden sich in der Überlieferung nicht. Ein Großteil der Texte der Literatur der Sumerer - aber auch der Babylonier - stammt überdies nur aus bestimmten, relativ kurzen historischen Perioden. So ist anzunehmen, dass es Epochen gab, die ein besonderes Interesse daran hatten, die umlaufende Literatur, die vielleicht nur mündlich tradiert wurde, zu registrieren bzw. zu kodifizieren. Das geschah offenbar in Zeiten kulturellen Wandels; dabei wurden einerseits Texte ausgeschieden, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen, andererseits aber auch Texte, die ursprünglich getrennt überliefert worden waren, neu zusammengestellt.
 
Der Ort, an dem die Literatur niedergeschrieben und überliefert wurde, war die »Schule«. Hier wurden nicht nur die Schriftzeichen gelehrt, sondern auch die Schreiber ausgebildet, die in den verschiedenen Bereichen des Rechts und der Verwaltung tätig waren. Aber auch die Priester, die für den täglichen Kult Hymnen und Gebete, für Orakelwesen und Magie Beschwörungen lernen mussten, wurden hier erzogen. Die Schule war wohl zudem der Ort, an dem viele der Literaturwerke eigentlich komponiert wurden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der größte Teil der altorientalischen Literatur anonym überliefert ist. Einen babylonischen Homer, Ovid oder Vergil hat es offensichtlich nicht gegeben, auch wenn bestimmte Dichtungen mit Namen von berühmten Weisen, Königstöchtern oder Heroen in Verbindung gebracht wurden.
 
Es ist erstaunlich, wie breit bereits die frühe sumerische Überlieferung ist. Sie umfasst zunächst profane Themen, etwa historische Berichte über besondere Taten, Königslisten, Gesetze und Vorschriften sowie ein Regelwerk für die Arbeit des Bauern. In den Bereich früher Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt gehören Streitgespräche, die etwa zwischen Sommer und Winter, Mutterschaf und Getreide, Baum und Rohr, Vogel und Fisch, Silber und Kupfer geführt werden und die jeweiligen Vorzüge oder Nachteile des einen oder anderen in Rede und Gegenrede herausstellen. Auch über die Schule und ihren Unterrichtsstoff gab es umfangreiche Streitgespräche, in denen die Vorstellungen über die Leistungen in der Schule, das soziale Wohlverhalten und die gesellschaftliche Stellung der Schüler diskutiert wurden.
 
Der Brief, der in der täglichen Praxis hauptsächlich geschäftlichen, höchst selten persönlichen Inhalts war, konnte gleichwohl literarisch verwendet werden. So kennen wir Briefe an Götter und vergöttlichte Herrscher, die gegenüber den Geschäftsbriefen durch ihre hymnische Sprache und die ausführliche Begründung der Bitte - in aller Regel ein Hilfewunsch bei Krankheit oder anderen Bedrängnissen - abstechen. Offenbar wurden diese Briefe sogar der Gottheit im Tempel zu Füßen gelegt, damit diese sie erhöre.
 
Der weitaus größte Teil der literarischen Produkte der Sumerer ist allerdings religiösen Inhalts; hierzu zählen nicht allein Hymnen, Gebete und Mythen, sondern auch Dichtungen, die etwa ausführliche Klagen über verfallene Tempel, verschwundene Götter oder - ganz besonders häufig - zerstörte Städte enthalten. Diese Klagen, zu denen auch der »Fluch über Akkad« gehört, eine Komposition, in der die Überheblichkeit dieser Stadt und ihrer Göttin für ihren Untergang verantwortlich gemacht wird, sind Auseinandersetzungen mit der religiösen Frage: Wie kann es geschehen, dass kultisches Wohlverhalten mit Krieg, Seuche und Tod bestraft wird? Diese umfangreichen Klagen zeichnet eine Sprache und Kompositionstechnik aus, die gern mit Wiederholungen arbeitet. Das führt an manchen Stellen dazu, dass lange litaneiartige Aufzählungen von Gegenständen, Gebäuden, Tieren und Menschen erscheinen, die sogar mehrfach wiederholt werden können. Das Stilmittel der Wiederholung zieht sich im Übrigen fast durch die gesamte sumerische Literatur, die damit eine besondere Intensität, eine Steigerung im Ausdruck, aber auch einen poetischen Rückgriff auf bereits Gesagtes erreicht. Solche »Versatzstücke«, die auch die spätere babylonische Literatur zum Teil kennzeichnen, sind Merkmale mündlicher Überlieferung, die in die spätere schriftliche Tradierung hineinwirkte.
 
Hymnen, Gebete und Götterlieder sind uns in großer Zahl überliefert. Ihre Herkunft aus dem Kult geben sie schon dadurch zu erkennen, dass sie nach den Instrumenten (vor allem Pauke und Leier) benannt sind, die zu ihrer Begleitung gespielt wurden. Mit den Instrumenten verbanden sich aber für die Sumerer bestimmte Grundstimmungen - zum Beispiel Freude oder Schmerz -, die dann auch den Grundtenor des Textes bestimmten. Da viele der gebrauchten Bilder und schmückenden Beiworte recht allgemeiner Art sind, können sie leicht ausgetauscht werden, sodass nur selten Kompositionen entstehen, bei denen die Charakteristika einer Gottheit für uns klar hervortreten. Wir können deshalb vermuten, dass es auch den Sumerern nicht darum ging, spezifische Charakteristika einer Gottheit hervorzukehren, sondern darum, das allgemein Göttliche in jeder Gottheit des reich bevölkerten Pantheons zu betonen.
 
Mythen und Epen rankten sich besonders um einzelne Orte und Gottheiten. In Uruk wurden Inanna und Anu verehrt; hier war auch der Hirtenkönig Dumuzi zu Hause, der in Kulab residierte, einem »Vorort« von Uruk. In Eridu herrschte der Weisheitsgott Enki. in Nippur residierte Enlil, der als der Herr der Götterversammlung galt und zu dessen Ehren alljährlich Schiffsprozessionen stattfanden.
 
Die mythische Literatur der Sumerer beschäftigte sich selbstverständlich auch mit den großen Themen des Menschen: der Entstehung der Welt und Erschaffung des Menschen, der Liebe unter den Menschen sowie zwischen Göttern und Menschen, der Vernichtung des Menschengeschlechts und der Rivalität zwischen den Göttern. Das Schicksal der Sterblichkeit, das auch für die Götter gelten konnte, wurde in Unterweltsmythen eindringlich geschildert. Ein solcher Mythos schildert, wie die Göttin Inanna nach ihrer Erhebung zur Himmelsherrin neben Anu versucht, auch Herrin der Unterwelt zu werden. Sie begibt sich in die Unterwelt, wird dort aber von der Todesgöttin gefesselt und festgehalten. Ihrem Wesir gelingt es jedoch mit der Unterstützung des Weisheitsgottes, Inanna aus der Unterwelt zu erlösen. Da sie aber einen Ersatz für sich zu stellen hat, verlässt sie, gefolgt von Dämonen, die Unterwelt und sucht auf der Erde nach einem Stellvertreter. Dort haben alle Fürsten Trauer angelegt; nur Dumuzi, der König von Kulab, sitzt in vollem Ornat auf dem Thron. Als ihn die Dämonen zu packen versuchen, kann er sich zunächst zu seiner Schwester Geschtinana retten und sich mithilfe des Sonnengottes in verschiedene Tiere verwandeln, sodass er den Dämonen entgeht. Schließlich aber wird er doch von ihnen ergriffen und in die Unterwelt hinabgeführt. Seine Schwester Geschtinana bietet sich jedoch an, einen Teil des Jahres an seiner Stelle in der Unterwelt zu verbringen. Nach Ablauf ihrer Frist muss Dumuzi jedoch, beweint von der Bevölkerung Sumers, zu Beginn jedes Sommers in die Unterwelt zurückkehren - sein alljährlicher Abstieg in die Unterwelt und seine Rückkehr symbolisieren das Absterben und Wiederaufblühen der Vegetation im Wechsel der Jahreszeiten.
 
Prof. Dr. Wolfgang Rölig

Universal-Lexikon. 2012.

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